Wilhelm Kiel, ein Bleicheröder, der nach den USA auswanderte und dort Geschichte schrieb
Vorgeschichte
Am 27.08.1997 erschien im Bleicheröder Echo ein ausführlicher und bemerkenswerter Artikel des Prof. Dr. Karl Birnstiel aus Koblenz mit dem Titel „Auf Bleicheröder Spuren an den Küsten des Stillen Ozeans – ein Bleicheröder Schneidergeselle als ´König´ von Amerika“, doch blieb dieser Beitrag erstaunlicherweise weitgehend unbeachtet.
Wiederum 23 Jahre später, im Jahr 2020 veröffentlichte der frühere Nordhäuser Archivar Dr. Peter Kuhlbrodt in der „Zeitschrift für Südharzer Kirchengeschichte – Beiträge zur kirchlichen Kunst, Verwaltung und Gesellschaft im südlichen Harzvorland“ zur Überraschung der meisten Bleicheröder einen Aufsatz unter dem Titel „Wilhelm Kiel alias Dr. Wilhelm Keil aus Bleicherode - der König von Aurora“.
Hierin beschreibt er das zum Teil bewegte Leben des Bleicheröders Wilhelm Kiel (1812-1877), Sohn einer Weberfamilie, der im Jahr 1835 mit seiner Ehefrau Louise, geb. Ritter als Schneider nach New York auswanderte.
1837 führte ihn sein Weg, gemeinsam mit seiner Familie, weiter nach Pittsburgh/Pennsylvania, wo er zunächst eine Apotheke eröffnete und später als unabhängiger Prediger tätig war.
In seinen Predigten wandte er sich besonders gegen das weltliche, sündhafte Leben und propagierte ein christlich-brüderliches Zusammensein. Hier fielen seine Worte unter den zahlreichen deutschstämmigen Auswanderern auf fruchtbaren Boden. Viele scharten sich um ihn und Wilhelm Keil wurde ihr charismatischer Führer, der mit seinen Anhängern eine neue, eigene Lebenswelt schaffen wollte.
Sie zogen gemeinsam in den Bundesstaat Missouri und gründeten dort die bekannte Kommune Bethel.
Gemäß ihrem Grundsatz „Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ entwickelte sich innerhalb weniger Jahre eine blühende Siedlung mit ca. 650 Mitgliedern.
Jeder gab all sein Barvermögen in die große Gemeinschaft, brachte sich gemäß seiner Fähigkeiten ein und erhielt dafür von der Kommune alles, was er zum Leben benötigte. Schnell besaß die neue Siedlung Handwerksbetriebe und Fabriken, Mühlen und Whiskey-Brennereien, Warenhäuser und natürlich eine Schule und Kirche. Die nach außen verkauften Waren fanden regen Absatz: Handschuhe aus Hirschleder, der äußerst geschätzte Whiskey „Dr. Keil´s Golden Rule Whiskey“ oder ein spezieller Pflug, der „Bethel-Pflug“. Jede Familie bewohnte ein eigenes Haus, meist aus massivem Backstein.
Aurora
1853 beschloss Keil die Gründung einer weiteren Kommune im Bundesstaat Oregon, stand aber auch späterhin weiter der Kommune Bethel vor. Zusammen mit ihm brachen zwei Jahre später 75 Kolonisten aus Bethel mit 25 Planwagen auf die 3.000 km weite Reise auf und errichteten ein halbes Jahr später die Wälder von Oregon.
Dort rodeten sie Flächen, legten sie trocken und errichteten Blockhäuser.
Die neu gegründete Siedlung benannte Wilhelm Keil nach seiner Tochter „Aurora“. Schon bald zählte diese sich selbst versorgende Kommune etwa 600 Menschen. Man lebte in einer engen Gemeinschaft und benötigte weder Lohn noch Geld.
Um das Jahr 1855 holte dann Wilhelm Keil auch zwei seiner älteren Brüder mit Familien aus Bleicherode nach Oregon.
Für die flächenhafte Erschließung des Staates Oregon war die Tätigkeit der Keilschen Kolonisten von größter Bedeutung.
Aurora wurde dem Bahnnetz angeschlossen, errichtete Hotels in Bahnhofsnähe und die „gute deutsche Küche“ und die Musikkapelle waren in ganz Oregon bekannt.
1872 besuchte der Schriftsteller Theodor Kirchhoff die Kommune Aurora und machte diese durch seinen Artikel „Ein Besuch beim König von Aurora“ in der Zeitschrift „Gartenlaube“ in ganz Deutschland bekannt.
In diesem überaus lesenswerten Beitrag beschreibt Kirchhoff eingehend das blühende Leben in Aurora. Alle Gebäude, Einrichtungen, Gärten, Plantagen und angebotenen Speisen befanden sich in einem absoluten Bestzustand. Alles war gut organisiert und die Bewohner zufrieden.
Eine Vorzeigeortschaft.
1877 verstarb Dr. Wilhelm Keil im Alter von 65 Jahren.
Jedoch hatte er leider versäumt, einen geeigneten Nachfolger für sich aufzubauen, sodass es niemanden gab, der seinen Platz einnehmen konnte. Deshalb beschlossen die Kolonisten nach Keils Tod, die führungslose Kommune aufzulösen und den gemeinsamen Besitz aufzuteilen.
Einige Bewohner Auroras verzogen.
Um 1900 zählte die Siedlung nur noch 122 Einwohner. Seitdem stieg dann jedoch die Bevölkerungszahl kontinuierlich an und hatte sich im Jahr 2020 mit 1.133 Einwohner bereits wieder verzehnfacht.
Der Ort hat eine lebendige Bevölkerungsstruktur und einen eigenen Flughafen.
Bürgermeister von Aurora ist Brian Asher.
1956, im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums der Gründung von Aurora, entdeckten die Nachkommen der Kolonisten die Geschichte ihrer Stadt neu. Um diese Historie zu bewahren, gründete man das Old Aurora Colony Museum mit der Aurora Colony Historical Society, einem aktiven Geschichtsverein, der sich um die Erforschung und Tradierung der bemerkenswerten Entwicklung des Ortes bemüht. Derzeitig ist Ted Heid der Präsident des Board of Directors der Society.
Der Bethel Historic District wurde 1970 in das National Register of Historic Places eingetragen. Mindestens zwanzig historische Bauten, welche von der Bethel Colony errichtet wurden, existieren noch heute und können besichtigt werden.
Die nahegelegenen Siedlungen Elim (mit Keils Wohnhaus) und Hebron wurden ebenfalls in besagtem National Register aufgenommen.
Verbindung Aurora-Bleicherode in der Gegenwart
An dieser Stelle sei noch einmal ein Rückgriff auf den Artikel von Prof. Dr. Birnstiel im Bleicheröder Echo von 1997 gestattet.
Auf einer Reise durch den Westen der USA traf er auf den damaligen Leiter des Oxbarn-Museums Aurora Patrick Harris und durch diesen zufällig auf das ihm bis dahin unbekannte Bleicherode. Beide wollten mehr von dem Ort Bleicherode erfahren.
Im April 1997 besuchte Prof. Birnstiel Bleicherode mit dem Ziel, mit eventuellen Nachfahren Wilhelm Keils Kontakt aufzunehmen - erfolglos. Nach seinem Bekunden bestand großes Interesse in Aurora, mehr über die Heimat und Herkunft ihres Ortsgründers zu erfahren, denn mehr als der Geburtsort Bleicherode - Thüringen - Germany war dort nicht bekannt.
Prof. Birnstiel verstarb leider im Jahr 2021 im Alter von 90 Jahren.
Aktuell
Im Sommer 2022 kündigte sich in Bleicherode Besuch aus Seattle/USA an. Donald Kunz stellte sich als ein Nachfahre von Wilhelm Keil vor, wollte den Geburtsort seines legendären Urahnen kennenlernen.
Im Juli 2022 reiste er zu einem mehrtägigen Besuch in Bleicherode an. Im Rahmen eines vielschichtigen und ausgedehnten Besuchsprogramms konnte Herr Kunz die Stadt mit den entsprechenden historischen Stätten kennenlernen. Donald Kunz war so angetan und begeistert, dass er Bleicherode von nun an nach Kräften unterstützen möchte und eine enge Verbindung zu Aurora knüpfen will.
Im Oktober 2022 besuchte ein Mitglied des Boards of Directors der Aurora Colony Historical Society, Frau Coral Hammond, zusammen mit der deutschstämmigen Frau Barbara Kerkman Bleicherode. Ihnen wurde ebenfalls ausführlich Keils Geburtsort vorgestellt und Pläne für ein weiteres Kennenlernen der Orte, eine eventuelle Städtepartnerschaft und einen Informationsaustausch erörtert.
Im Ergebnis dieser Besuche in Bleicherode fanden in Aurora intensive Besprechungen zu den vorgeschlagenen Initiativen statt. Zunächst war man unsicher, da in den USA Städtepartnerschaften weniger verbreitet sind als in Europa. Nach interner Klärung wurde seitens des Stadtrates von Aurora reges Interesse an einer freundschaftlichen Beziehung zu Bleicherode bekundet und am 15.08.2023 ein entsprechender offizieller Stadtratsbeschluss als Unterstützungserklärung für dieses Vorhaben gefasst und ein Komitee für das Partnerschaftsprojekt gebildet.
Um die nächsten Schritte gemeinsam entwickeln zu können, wird seitens der Gemeinde Aurora nun ein entsprechender Beschluss des Landgemeinderates Bleicherode erbeten.
Auf dieser Basis kann schrittweise eine Städtepartnerschaft erwachsen.
Nützlich wäre diese für beide Seiten.
Im Gegensatz zu anderen Städtepartnerschaften wäre hier durch die historische Verbindung ein echter natürlicher Bezug zwischen den Orten vorhanden.
Nutzen hätten die Städtepartner beiderseits auf vielen Ebenen, kulturell, touristisch, wie bildungspolitisch (Schüleraustausch und Sprachreisen) etc.
Seit dem 5. Februar 2024 dürfen sich Bleicherode und Aurora Mitglieder der internationalen Städtepartnerschaftsgesellschaft „Sister City International“ nennen. Das ist eine hervorragende Basis für die schrittweise weitere Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen.
Eines der wichtigen Projekte von Donald Kunz ist die Errichtung eines Gedenksteins mit einer Bronzetafel mit Inschrift für den verdienten Bleicheröder Wilhelm Kiel vor dem Heimatmuseum.
Dazu wurde ein passender Stein ausgewählt und die Inschrift der zweisprachigen Gedenktafel mit Herrn Kunz und der Historischen Gesellschaft Auroras abgestimmt.
Der Text lautet:
GEBURTSSTÄTTE VON HEINRICH WILHELM KIEL
* GEBOREN AM 18. MÄRZ 1812 IN BLEICHERODE
VERSTORBEN AM 30. DEZEMBER 1877 IN AURORA, OREGON, U.S.A. SOHN VON JOHANN ANDREAS WILHELM KIEL & JOHANNE ELEONORE STOLZE
GRÜNDER UND LEITER ZWEIER ERFOLGREICHER CHRISTLICHER GEMEINSCHAFTEN IN BETHEL, MISSOURI, U.S.A. UND AURORA, OREGON, U.S.A.
*Sein Nachname änderte sich nach seiner Ankunft in den U.S.A. von Kiel zu Keil
Gespendet durch die Historische Gesellschaft von Aurora Colony, Aurora, Oregon, USA
BIRTHPLACE OF HEINRICH WILHELM KIEL* BORN 18 MARCH 1812 IN BLEICHERODE
DIED 30 DECEMBER 1877 IN AURORA, OREGON, U.S.A SON OF JOHANN ANDREAS WILHELM KIEL & JOHANNE ELEONORE STOLZE
FOUNDER AND LEADER OF TWO SUCCESSFUL CHRISTIAN COMMUNAL SOCIETIES IN BETHEL, MISSOURI, U.S.A. AND AURORA, OREGON, U.S.A
*His surname changed from Kiel to Keil after arrival in the U.S.A
Sponsored by the Aurora Colony Historical Society, Aurora, Oregon U.S.A.
Die Kosten für die Herstellung des Gedenksteins inkl. Gedenktafel wurden zu 100% durch Spenden von Herrn Kunz bzw. der Historischen Gesellschaft von Aurora Colony bestritten.
Am 19.07.2024 wird mit einem feierlichen Akt der Gedenkstein Wilhelm Kiel/Keil im Beisein seines Nachfahren Donald Kunz, der dazu aus Seatle/USA anreist, enthüllt.
Am Standtort des (heute nicht mehr existierenden) Eltern- und Geburtshauses von Wilhelm Keil (Gartenstr., ehemals Hartdungsches Grundstück/Ecke Gymnasium) wird am gleichen Tag ein Erinnerungsschild befestigt werden, das später für weitergehende Informationen einen QR-Code erhält. Desgleichen für den Gedenkstein.
Stand 09.07.2024
Dr. Hans-Christoph Maletz
Burgstr. 40
99752 Bleicherode